Miriam Coretta Schulte

Wir brauchen dich – mit all deinen Zweifeln
Ein Brief an eine Freundin, die nicht an Alternativen zur Polizei glaubt
Liebe S,
die letzte Nacht war lang. Wir waren aufgewühlt, nachdem wir schon wieder eine gewalttätige Polizeikontrolle auf der Straße miterleben mussten, aber wahrscheinlich hat uns dann alles was danach kam noch mehr erschöpft: die langen Diskussionen, zu viel Wein, und schließlich – zumindest bei mir – das lange Wachliegen im Bett, die Suche nach Antworten auf deine Fragen und Zweifel. Wird es jemals eine Alternative zur Polizei geben, wie wir sie heute kennen?
2024 war das Jahr mit den meisten Todesfällen durch Polizeieinsätze in Deutschland; im gleichen Jahr warnte das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter vor systematischer Misshandlung von Inhaftierten durch die Schweizer Polizei.
Solche Entwicklungen passieren nicht nur hier; weltweit nehmen autoritäre Strukturen zu. Und ich bin erleichtert, dass wir gestern einen gemeinsamen Moment hatten, in dem wir darüber zusammen traurig und wütend sein konnten: Indem wir Verzweiflung zulassen, wehren wir uns dagegen, dass sich diese Entwicklungen normalisieren. Und wehren uns gegen eine Politik, die uns voneinander trennen will, indem sie Leben hierarchisiert und Minderheiten gegeneinander ausspielt. Wir spüren es täglich: Das ist nicht die Welt, in der wir leben wollen.
Aber ich stimme dir zu: Es gibt so viele Gründe, warum es schwerfällt an Alternativen zur heutigen Polizei zu glauben. Wir sehen mehr Gewalt gegen friedliche Proteste, schärfere Grenzkontrollen, mehr Zensur und Unterdrückung. Wir haben beide darüber gelesen, welche rassistischen Stereotype in den Lehrbüchern während der Polizeiausbildung verwendet werden; wir wissen beide, dass ein Großteil der Menschen, die von der Polizei getötet wurden, psychische Probleme hatten. Und wie soll sich eine Institution weiter entwickeln können, die so kritikresistent ist, dass nur 2 % der Verfahren gegen die deutsche Polizei überhaupt vor Gericht landen?
Ich verstehe, dass sich das lähmend, sogar klaustrophobisch anfühlen kann, wenn wir, wie Kelly Hayes schreibt, „etwas Schreckliches und Unentrinnbares verstanden haben“. Und ja, deine Frage hat mich berührt: Wie sollen wir weiter an Veränderung arbeiten, wenn bisher keine Polizeireform wirkliche Transformation gebracht hat?
Die Vorstellungskraft dehnen
Und doch arbeiten so Viele an einer anderen Zukunft.
Weil wir beide Imagination: A Manifesto von Ruha Benjamin verschlungen haben, bin ich nochmal zu ihrer Frage zurück gekommen: „Warum können wir uns vorstellen, Herzzellen im Labor zu entwickeln, aber nicht, Empathie für andere Menschen im Alltag und noch weniger in unseren Institutionen wachsen zu lassen?“
Was wäre, wenn wir uns eine Welt vorstellen könnten, in der Polizei nicht nötig ist, weil wir alle Verantwortung für unser Handeln übernehmen - und es Verantwortungsstrukturen gibt, die alle Menschen schützen, nicht nur diejenigen mit Privilegien? Wie würde es sich anfühlen, in einen Bus zu steigen, in dem alle Mitfahrenden wissen, wie man Konflikte löst, weil sie gelernt haben Fehler einzugestehen und gemeinsam Lösungen zu finden? Und wie wäre es, nachts allein durch leere Straßen zu gehen, und zu wissen, dass niemand Geldprobleme hat und Miete, Krankenkasse und Grundversorgung von allen gedeckt sind?
Unsere Vorstellungskraft wird beschränkt und geprägt durch eine Kultur, die auf Sicherheit und Angst fokussiert. Politiker*innen, Lobbygruppen und Medien sind gut darin, mit unseren Gefühlen zu spielen und uns durch Angstmacherei nach „mehr Sicherheit“ rufen lassen - ein Ruf, der meistens ideenlos mit „mehr Polizei“ übersetzt.
Ein deutliches Beispiel sind die jährlich veröffentlichten Polizeistatistiken: Sie verzerren die Realität, weil sie Polizeieinsätze zählen und nicht etwa bewiesene Straftaten - wenn die Polizei ein Viertel öfter kontrollieren will, taucht es in der Statistik als krimineller auf, auch wenn dort nichts nachgewiesen wird. Außerdem werden meist nur kurze Zeiträume betrachtet, wodurch positive langfristige Entwicklungen ausgeblendet werden. Würden wir Straftaten in Deutschland heute mit den 90ern vergleichen, würden wir sehen, dass Kriminalität rückläufig ist. Doch stattdessen hören wir alarmierende Schlagzeilen – und dann Forderungen nach höheren Polizeibudgets.
Du hast mir gesagt, dass du dich manchmal dafür schämst, so viele Zweifel zu haben. Dass du dich fragst, ob du „manipuliert worden bist“ und nicht genug Widerstand geleistet hast gegen diejenigen, die unsere Herzen mit Angst füllen wollen.
Ich will dich umarmen, weil unsere Zweifel okay sind. Mehr noch – Zweifel können wertvoll sein. Sie zeigen dir, dass etwas nicht stimmt oder nicht zu deinen Werten passt. Und das ist wichtig, wenn wir kritisch bleiben wolle.
Trotzdem verstehe ich dich: Was, wenn diese Zweifel selbst Teil der Angstpolitik sind? Gibt es wirklich keine realistischen Alternativen?
Existierende Alternativen und echte Veränderungen
Tatsächlich gibt es viele Modelle, die zeigen: Polizei und Konfliktlösung können anders funktionieren.
Denk an die britische Polizei („Bobbies“), bei der 95 % der Beamt*innen ohne Schusswaffen arbeiten (mit der traurigen Ausnahme Nordirlands). Denk an Marinaleda, eine sozialistische Gemeinde in Spanien, die ganz ohne Polizei funktioniert – vermutlich, weil dort das Eigentum kollektiv organisiert ist, die Unterschiede zwischen sozialen Klassen gering sind, Wohnraum fast kostenlos (15 Euro pro Monat) und die Arbeitslosigkeit extrem niedrig. Denk an Rojava: Trotz Krieg werden dort viele Konflikte in „Frauenhäusern“ oder „Volkshäusern“ durch Mediation gelöst – und verringern dadurch den Bedarf an Polizei oder Gerichten.
Und dann gibt es Entwicklungen, die sich abzeichnen: Über 20 große Städte in den USA haben seit den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 ihre Polizeibudgets gesenkt. (In Austin fließt etwa inzwischen ein Drittel des früheren Polizeibudgets in soziale und Community-basierte Projekte.) In der Schweiz hat vor wenigen Wochen das Stadtparlament von Lausanne entschieden, seine Polizei zu entwaffnen – nach dem britischen Vorbild. Und abseits von diesen offiziellen Beschlüssen bauen etliche Zusammenschlüsse seit Jahren an eigenen Sicherheitsnetzwerke, schlichtweg weil für viele gesellschaftlichen Gruppen die Polizei zu rufen keine Hilfe wäre, sondern eine Bedrohung.
Ein Rückzugsraum für Zweifel
Was also bedeutet es, dass es all diese Beispiele gibt und wir trotzdem zweifeln? Wie können wir unsere Ängste ernst nehmen, ohne paralysiert zu sein? Können wir lernen, Fokusmomente zu setzen – Momente zu schaffen, in denen wir unserer Angst Raum geben, und Momente, in denen wir uns trotz allem auf die Arbeit an einer anderen Zukunft konzentrieren?
Ich glaube, dass wir das können. Und es hilft mir, mich zu erinnern, wer dieses Wir ist – und wie stark Wir sein können: Wir sind alle, die sehen, dass die Polizei Gruppen gegeneinander ausspielt und damit Gewalt statt Schutz schafft. Wir haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Privilegien und kämpfen auf unterschiedlichen Wegen. Aber wir alle weigern uns, die Dinge einfach hinzunehmen. Wir sind viele. Und wir brauchen dich. Wir brauchen dich – mit all deinen Zweifeln.
Das hier ist eine Einladung: Komm, und bring deine Zweifel mit. Wir haben einen gemütlichen Raum für sie vorbereitet, wo sie sich ausruhen, mit anderen Zweifeln rumhängen und entspannen können, vielleicht sogar einschlafen. Und während sie einen guten Moment ohne dich haben, haben wir einen Moment mit dir, um unsere Vorstellungskraft zu stärken.
Was wäre, wenn wir gemeinsam Visionen entwickeln für ein Zusammenleben, das sich sicher anfühlt?
Was wäre, wenn wir lernen würden, einander zuzuhören, unsere unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen und uns gegenseitig inspirieren, neue Ideen nicht nur zu entwickeln, sondern sie auch umzusetzen?
Was wäre, wenn wir plötzlich realisieren, wieviel Kraft unsere Wünsche und Ideen freisetzen?
Was wäre, wenn wir wöchentliche Imaginations-Sessions hätten und mit der Zeit mutigere und kreativere Visionen bauen?
Nach ein paar Minuten, ein paar Stunden kannst du deine Zweifel wieder abholen. Oder vielleicht nur einen Teil davon. Vielleicht bringst du sie auch bald mal wieder in den Rückzugsraum, vielleicht nutzt du die freie Zeit, um dich in ein Projekt einzubringen, an das du glauben willst.
Letztendlich haben wir nichts zu verlieren, wenn wir es versuchen. Aber alles zu verlieren, wenn wir es nicht einmal probieren.
Nimm dir die Zeit, die du brauchst – wir warten auf dich. Und drehen die Heizung im Zweifelrückzugsraum auf.
Miriam
Miriam Coretta Schulte ist Theatermacherin, hat einen Bachelor in Jura und arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus. Theaterräume sind für sie Orte, an denen wir uns die Zeit nehmen können, um über Alternativen zum gesellschaftlichen Status Quo nachzudenken. Als LAB-Artist 2024/25 arbeitet sie einem World-Building-Game, das Visionen zu einer Welt ohne Polizei entwickelt.
