Life is not useful
Text: Bruno Freire
Hallo, guten Abend,
ich habe von diesem Tanz in meinem Wohnzimmer geträumt. Ich begann zwischen Spüle und Sofa zu proben und dort nach dem Wunderbaren zu suchen. Um zu üben, tanzte ich, während ich den Worten des indigenen Philosophen und Aktivisten Ailton Krenak lauschte – als eine Art „mit den Problemen zu leben“, die er uns präsentiert (Donna Haraway, 2016). Mit seinen Kritiken an meiner eigenen Existenz zu leben.
Als städtischer Mensch im Westen zu leben bedeutet, gewaltsam zu existieren – bewusst oder unbewusst. Wir leben in einem entscheidenden Jahrzehnt, dem letzten, das die schlimmsten Klimakatastrophen noch abwenden kann. Darum scheint es mir, dass „wir denen zuhören sollten, die stets geholfen haben, die Wälder zu schützen, und nicht denen, die sie permanent zerstört haben“ (Eliane Brum, 2021). „Seien wir bescheidener, weniger modern“ (Bruno Latour, 2022).
Ich werde also tanzen. Ich werde zu Musik tanzen, zu einer Aufnahme einer Konferenz, zu einem unsterblichen Autor, der nun einen Lehrstuhl an der Academia Brasileira de Letras innehat. Er sagt: „Das Leben ist eine Erfahrung des Staunens“, „das Leben ist ein wunderbares Geschenk, das nicht auf utilitaristische Choreografie reduziert werden kann“ und „das Leben geht über ein Wörterbuchwort hinaus – es hat keine Definition“.
Als Tänzer und Choreograf interessiert es mich, eine Sammlung von Autor:innen und ihren Gedanken über Choreografie und das Wunderbare aufzubauen. Was ich hier tue, ist nicht festgelegt; ich versuche, es jeder Aufführung anzupassen. Aber das Prinzip bleibt: Ich werde vor euch erneut den Worten von Ailton Krenak zuhören. Er flüstert mir ins Ohr, und ich bewege mich – lasse Bewegungen aus meinem Selbst, meiner „Myselva“, entstehen.
Die Idee des Selbst als „Selva“, als Dschungel, wurde vom italienischen Philosophen Massimo Canevacci entwickelt, der nach Mato Grosso do Sul reiste, um die Begräbnisrituale der Bororo zu erforschen – auf den Spuren von Claude Lévi-Strauss, dem französischen Anthropologen und Autor von Tristes Tropiques. Ich glaube, Lévi-Strauss hat diesen Titel, „traurige Tropen“, verfehlt, weil nicht Traurigkeit, sondern Freude das Leben in den Tropen definiert (Eduardo Viveiros de Castro, 2019). Zumindest ist es das, woran ich mich (myselva) erinnern möchte.
Der Titel dieses getanzten Vortrags lautet Life is not useful or It is what it is, aber manchmal denke ich, ich hätte das Stück einfach Life is marvelous nennen sollen.
Ailton Krenak beginnt mit den Worten: „Im Moment werden wir alle durch eine Art Erosion des Lebens herausgefordert. Es sind jene Wesen, die von der Moderne durchdrungen sind, welche die ständigen Neuerungen der Technologien auch verzehren.“
Diese Idee begegnet mir bei jedem Schritt, den wir in Richtung technologischen Fortschritts machen: Überall, wo wir hintreten, verschlingen wir die Erde. Es ist unmöglich geworden, so sanft auf der Erde zu gehen, dass keine Spur zurückbleibt. Unsere Fußabdrücke werden immer tiefer. Die Vorstellung, dass Einzelne ihre eigene Spur hinterlassen, ist verschwunden. Wenn ich auf die Erde trete, bleibt nicht mein Abdruck, sondern unserAbdruck: die Spur einer desorientierten Menschheit, schwer und tief. Mit jeder unserer Bewegungen, bewegen wir uns alle.
Wenn ich mich bewege, bewegt ihr euch … (Ludacris, 2003).
Ein Baby in den Armen einer Mutter wackelt mit den Beinchen und sinkt zu Boden. Dieses Baby wird in der Welt Hygieneprodukte, Windeln, Stoffe und Materialien brauchen, die die Erde aufzehren. Von Geburt an ist es – unfreiwillig – schon ein kleiner Räuber des Planeten.
Neulich habe ich eine kleine Pflanze geschenkt bekommen, die Blätter hervorbringt, die man pflücken, waschen, mit Olivenöl oder Zitrone verfeinern und essen kann. Sie heißt Moringa (Moringa oleifera) und ist reich an Eiweiß. Meine Moringa-Pflanze wuchs im Hinterhof, und eines Tages, am späten Nachmittag, fanden die Ameisen sie. Im nächsten Moment waren keine Blätter mehr da: alles war weggefressen, nur der Stiel blieb. Ich war so wütend auf diese Ameisen … denn wir tun dasselbe mit dem Planeten. Von Mittag bis Nachmittag werden wir ihn ganz aufgezehrt haben.
Ökologie entstand aus der Sorge, dass das, was wir in der Natur suchen, endlich ist, unser Verlangen jedoch unendlich. Wenn unser Verlangen keine Grenzen kennt, verzehren wir den ganzen Planeten. Verlangsamung und Reduktion der Ressourcennutzung mögen das Ende hinauszögern, aber an vielen Orten ist dieses Ende längst Realität – gestern, heute und übermorgen.
Manche sagen vielleicht: „Das klingt apokalyptisch, das macht Angst!“ Doch es sind nur alte Neuigkeiten. Wir löschen langsam Welten aus, die unsere Vorfahr:innen ohne all die vermeintlich unverzichtbaren Geräte unserer Zeit kultiviert haben. Menschen, die im Wald leben, spüren das direkt: Sie sehen den Wald verschwinden, die Bienen, die Kolibris, die Ameisen, die Pflanzen, die Veränderungen im Zyklus der Bäume.
Wer auf die Jagd geht, muss heute tagelang laufen, um eine Art zu finden, die früher direkt am Dorf lebte. Die Welt um sie herum verschwindet. Menschen in Städten erleben das nicht in dieser Intensität, weil alles von selbst da zu sein scheint: Da ist eine Bäckerei, da ein Krankenhaus.
Im Wald gibt es keinen Ersatz fürs Leben; das Leben fließt, und man spürt den Druck dieses Flusses. Über die Idee hinaus, dass „wir Natur sind“, sollten wir erkennen: Wir sind genauso lebendig wie ein Fluss, ein Wald, der Wind oder die Wolken. Ich empfinde große Freude, dieses Gefühl zu leben und versuche, es zu vermitteln, respektiere aber, dass alle ihren eigenen Weg durch die Welt gehen.
Über Jahrtausende haben uns Kulturen glauben lassen, dass Menschen ungestraft auf dem Planeten handeln könnten. So haben wir diesen wunderbaren Organismus auf eine Abstraktion reduziert. Wir haben Rechtfertigungen erfunden, um die Welt zu formen, als wäre sie aus Plastik: um sie quadratisch oder flach zu machen, zu dehnen oder zu stauchen.
Der westliche Lebensstil hat die Welt zur Ware gemacht, und ein Kind, das in dieser Logik geboren wird, wiederholt dieses Modell – als sei es die einzig mögliche Welt. Alles ist bereits vorgezeichnet: ein Beruf, ein Platz in der Gesellschaft, sogar Krieg. Mich interessiert diese traurige, fertige Welt nicht; für mich hätte sie längst enden können. Ich versuche nicht, ihr Ende hinauszuzögern.
Als ich neulich öffentlich sagte, dass die Idee von Nachhaltigkeit eine Form persönlicher Eitelkeit sei, machte das viele wütend. Sie sagten, ich würde Bemühungen untergraben, die den übermäßigen Konsum thematisieren. Ich stimme zu, dass Aufklärung nötig ist – aber nicht durch den Mythos „Nachhaltigkeit“. Das wäre nur eine neue Täuschung, wie Religionen. Meine Provokation zielte auf unseren Egoismus: Ich rette mich nicht allein. Wir sitzen alle im selben Boot. Wenn ich erkenne, dass ich allein nichts bewirken kann, öffne ich mich für andere Perspektiven. Daraus kann Fürsorge entstehen – und mit ihr ein neues Verständnis des Lebens auf der Erde.
Wenn du noch in einer Kultur lebst, die die Erinnerung daran, Teil der Natur zu sein, nicht verloren hat, bist du Erb:in dieser Erfahrung. Du musst sie nicht retten. Aber wenn du die intensive urbane Erfahrung gemacht hast, ein:e Konsument:in des Planeten geworden bist, ist der Weg zurück viel schwieriger. Deshalb halte ich es für unverantwortlich, zu behaupten, Wassersparen, Bio-Essen oder Fahrradfahren würden das Tempo verlangsamen, mit dem wir die Welt verzehren – das ist eine gut verpackte Lüge.
Wir verwandeln die Ozeane in Müllkippen, und doch wird es Biochemiker:innen oder Ingenieur:innen geben, die sagen, ein Start-up werde das Plastik einfach auflösen. Diese Täuschung prägt sogar die Entscheidungen junger Menschen, die an Universitäten in Deutschland, England oder Belgien studieren und voller Überzeugung zurückkehren, dass die Welt weiter zu verzehren eine gute Idee sei.
Erst in einer Katastrophe, wenn die Versorgung abbricht, beginnen Menschen zu leiden und sich zu hinterfragen. Wer eine Katastrophe überlebt, denkt oft darüber nach, sein Leben zu ändern, weil er oder sie kurz erfahren hat, was es wirklich heißt, lebendig zu sein. Viele leben schon jetzt in Verlust, Katastrophe, Krieg. Von ihnen zu hören, kann lehrreich sein – ersetzen kann es die eigene Erfahrung nicht.
Ich lebe seit zehn Jahren am Ufer eines Flusses, der durch giftigen Schlamm nach dem Bruch eines Damms der Erzindustrie zerstört wurde. Dort lebe ich zusammen mit anderen Familien meines Volkes, die eigentlich hätten umgesiedelt werden sollen. Doch die Krenaks akzeptierten es nicht. Sie wollten bleiben – an diesem Ort der Last.
„Ah, aber ihr habt kein Wasser!“ – und? „Ah, aber ihr habt kein Essen!“ – und?
Sie wissen, dieser Ort ist beschädigt, und doch sind sie Teil von ihm. Nur indem sie in dieser Situation bleiben, können sie mit vollem Bewusstsein standhalten: im Bewusstsein des eigenen Körpers, im Bewusstsein des eigenen Seins – und mit der Entscheidung, über das bloße Überleben hinauszugehen. Rettung bedeutet, einen geplagten Körper an einen anderen Ort zu bringen. Aber diese Vorstellung gründet auf der Idee, dass das Leben nützlich sein müsse. In Wahrheit hat es keinen Nutzen. Das Leben ist so wunderbar, dass unser Verstand ihm einen Nutzen geben will – und scheitert. Leben ist Genuss, ein kosmischer Tanz. Und wir machen daraus eine lächerliche Choreografie der Nützlichkeit.
Warum bestehen wir darauf, Leben nützlich zu machen? Wir müssen den Mut haben, radikal lebendig zu sein, nicht ums Überleben zu feilschen. Wenn wir weiter den Planeten verzehren, leben wir stets nur auf Zeit. Überleben ist bereits ein Handel um das Leben. Leben ist ein Geschenk, das nicht reduziert werden kann. In unserer Beziehung zum Leben sind wir wie ein kleiner Fisch im riesigen Ozean. Keinem Fisch käme in den Sinn, dass der Ozean nützlich sein müsse – der Ozean ist Leben. Die Erfahrung, das Leben zu genießen, sollte das Wunder der Existenz sein.
Manche sagen: „Aber so viele Menschen leben in Not, in Elend, in Gewalt …“. Doch Orte der Not und Gewalt entstehen nicht von selbst – sie werden von uns geschaffen. Alle Kriege dieser Welt sind von uns gemacht. Wir dürfen uns auch nicht länger an die Idee des Schicksals klammern. „Diese Menschen haben gelitten, all das Elend ertragen, sind gestorben – es war ihr Schicksal.“ Das ist absurd. Es ist nicht ihr Schicksal, nicht meins und nicht das von irgendwem. Wir sind hier, um das Leben zu genießen – und je wacher unser Bewusstsein, desto intensiver unsere Erfahrung. Kein Selbstbetrug: Wenn du in eine Kirche, Moschee oder einen Tempel rennen musst, um Frieden zu finden, sei achtsam. Religionen und politische Ideologien eignen sich bestens, um das Modell eines „nützlichen Lebens“ zu stützen.
Weiße Menschen können kaum akzeptieren, ohne Zweck in der Welt zu sein. Sie glauben, Arbeit sei der Grund der Existenz. Sie haben andere versklavt und müssen nun sich selbst versklaven. Sie können nicht innehalten, um das Leben als Geschenk und die Welt als wunderbaren Ort zu erfahren. Die Welt, die wir teilen könnten, wäre gut. Aber viele sind entsetzt und nennen uns faul, weil wir nicht „zivilisiert“ werden wollten. Als ob Zivilisiertwerden Schicksal wäre. Das ist ihre Religion – die Religion der Zivilisation. Sie wechseln das Repertoire, aber die Choreographie bleibt dieselbe: ein schweres Stampfen auf die Erde. Unser Tanz dagegen ist ein leichtes, sanftes Auftreten.
Wenn indigene Menschen sagen: „Die Erde ist unsere Mutter“, antworten andere oft: „Wie poetisch, was für ein Bild!“ Doch das ist keine Poesie – das ist unser Leben. Wir sind untrennbar mit dem Körper der Erde verbunden. Wer ihn durchbohrt, verletzt oder zerkratzt, greift auch unsere Welt an. Vielleicht irritiert es andere, dass indigene Gemeinschaften Privateigentum nicht als Grundlage anerkennen. Einst lebten die Weißen in unserer Mitte, teilten Wege mit uns, bevor sie vergaßen, wer sie waren, und eine andere Richtung einschlugen. Wenn wir einander heute wieder begegnen, ist da manchmal ein Unbehagen: dass wir einem Pfad treu geblieben sind, den sie nicht bewahren konnten.
Der Klimawandel schließt niemanden aus. Auch wenn verspätet, wächst die Einsicht, dass indigene Völker Erfahrungen hüten, die für alle von unschätzbarem Wert sind – Erfahrungen, die zugleich bedroht sind. Was uns im Moment zu tun bleibt, ist, diese Erfahrung zu leben: die der Katastrophe und die der Stille.
